11. Oktober 2012

Um die Melodie zu hören

Dieser kleine Ausschnitt aus dem Buch 'Noch eine Runde auf dem Karussell' von Tiziano Terzani, mitten im Himalaya-Gebirge, lässt mich immer wieder aufs Neue aufhorchen und lauschen:

...Und dort oben, mit dem Herzen so leicht, wie ich es zuvor nie erlebt hatte, ohne Wünsche, ohne Ziele in einem immensen inneren Frieden, sah ich die erste Sonne des neuen Jahrtausends aufgehen wie die erste Sonne der Schöpfung, während einige der höchsten Gipfel der Erde aus einer kosmischen Dunkelheit langsam Gestalt annahmen und in einem rötlichen Licht zu erstrahlen begannen, wie um neue Hoffnung zu schenken im ewigen Kreislauf des Werdens und des Vergehens. Nie zuvor hatte ich die Götter so nahe gefühlt.

Über Wochen und Monate, mal in einer wärmenden Frühlingssonne, mal mit meterhohem Schnee vor der Tür und Steineichen und Rhododendron wie erstarrte Eisriesen davor, war ich Gast eines über achtzigjährigen hoch gebildeten Inders, der in seinem ganzen Leben nichts anderes getan hatte, als über den Sinn des Lebens nachzudenken. Ein Mann, der alle großen Meister seiner Zeit getroffen hat und nun dort oben in der Einsamkeit lebt, in der Überzeugung, dass es nur einen wahren Meister gibt: jenen, den jeder Mensch in sich trägt. Wenn des Nachts die Stille so vollkommen ist, dass sie zu dröhnen scheint, steht er auf, entzündet eine Kerze und setzt sich ein paar Stunden lang davor.

Wozu? - 'Um zu versuchen, ich selbst zu sein', hat er mir einmal geantwortet. 'Um die Melodie zu hören.'

Wenn er hin und wieder nach seinem Nachmittagsspaziergang im Wald auf den Spuren des Leoparden, der ihm eines Nachts seinen Wachhund gerissen hatte, die Holzstufen zu meiner Unterkunft erklomm, erwärmte ich auf einem kleinen Gaskocher Wasser aus unserer nahen Quelle und bereitete zwei Tassen von dem chinesischen Tee zu, den ich immer dabei habe.

'Alle Kräfte, sichtbare und unsichtbare, fassbare und unfassbare, männliche und weibliche, positive und negative, alle Kräfte des Universums haben das ihre dazu beigetragen, dass wir beide in diesem Moment hier vor dem Kaminfeuer zusammen sitzen und Tee trinken', erklärte er und brach dann in ein Lachen aus, das allein schon eine Freude war... (Tiziano Terzani, Noch eine Runde auf dem Karussell, Vom Leben und Sterben, 2007, S. 29f.)

2 Kommentare:

  1. Oh...ich sag mal vielen Dank fürs Teilen.
    Hm...ich habe vor Jahren mal das Buch "Briefe gegen den Krieg" von Terzani gelesen. Und dann habe ich den Film "Das Ende ist mein Anfang" gesehen - auf den bin ich übrigens auch durch dich gekommen (du hattest mal darüber geschrieben), habe ich dir eigentlich erzählt, wie toll ich den Film fand? Und nun dies - das weitet mein Herz. Ich stell mir gerade vor, wie er dort sitzt und auf diese fantastische Landschaft hinunterblickt. Hach...das weckt ein bisschen, nein ganz viel Sehnsucht in mir. Auf vielerlei Weise.
    Liebe Grüße! Meike

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    1. Hallo Meike, Du hast Recht, der Film ist wirklich toll. Ich habe ihn mir vor einiger Zeit in einem kleinen Kino hier in der Gegend angeschaut, in dem nur Filme dieser Art gezeigt werden. Ich habe schon lange nicht mehr so frei weinen können.
      Wenn ich den Text lese, geht es mir so wie Dir...so eine Freiheit, innen und außen, so eins mit allem.
      Ich kann Dir wirklich nur empfehlen, das Buch zu lesen...es lohnt sich!

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